Ein Passionsfilm wird zur Revolte der Würde 

Am 1. April startet der etwas andere Jesus-Film «Das Neue Evangelium» online und, falls möglich, im Kino. Regisseur Milo Rau inszeniert darin ein Passionsspiel, in dem die ausgebeuteten Flüchtlinge aus Afrika im Mittelpunkt stehen, die für Hungerlöhne auf Italiens Feldern arbeiten. Ein Interview mit dem Jesus-Darsteller und Aktivisten Yvan Sagnet, der seine eigene Erfahrung als Erntehelfer in die Rolle einfliessen liess.

Sie sind ein gläubiger Katholik. Was bedeutet Ihnen Ihr Glaube?

Das Erbe Christi zu respektieren und mit dem, was in der Bibel geschrieben steht, in Einklang zu sein. Auf Gott zu vertrauen und in meine Stärke, damit ich das, was mir wichtig ist, erreichen kann. Ich bin stets optimistisch, weil ich weiss, dass Gott an meiner Seite ist und über mich wacht.

Welche Aussagekraft und welchen Wert hat das Evangelium heute?

Den Sinn des Evangeliums interpretiert jede*r anders. Doch die Frohe Botschaft sollte so, wie sie in der Bibel niedergeschrieben wurde, auch respektiert werden. Heutzutage behaupten viele Menschen von sich, Christen zu sein, doch sie handeln nicht danach. Glaube bedeutet nicht nur, am Sonntag in die Kirche zu gehen, sondern auch gute Taten zu vollbringen und seinem Nächsten zu helfen. Für mich ist das Evangelium deshalb viel mehr als das geschriebene Wort, ich versuche es auch in die Praxis umzusetzen.

Was hat Sie daran gereizt, Jesus zu spielen?

Ich glaube an Jesus und an sein Erbe. Das zeigt sich in meiner Tätigkeit als Aktivist, denn Jesus war auch ein Aktivist. Als Apostel kämpfte er für die Armen, für die Migranten und die Minderheiten, er kämpfte für alle. Die Tatsache, dass ich heute für dieselbe Sache kämpfe, hat mir bei der Interpretation der Rolle sehr geholfen.

Was war Ihnen an der Darstellung Ihrer Figur besonders wichtig?

Mich hat der dokumentarische Aspekt gereizt, also neben dem biblischen Jesus auch einen fiktiven, heutigen zu kreieren und mich dabei zu fragen, für was würde dieser Jesus der Gegenwart stehen und für wen würde er sich einsetzen? Darüber hinaus hat mich immer schon die Passionsgeschichte sehr beeindruckt und bewegt. Ich wollte das Leiden Jesu spürbar machen, auch was er der Welt hinterlassen hat, nämlich seine Liebe in uns.

In Bezug auf Ihre Rolle gab es auch rassistische Äusserungen. Wie sind Sie damit umgegangen?

Wenn Kritik konstruktiv ist, habe ich kein Problem damit. Dass sich einige Menschen aber gar nicht mit meiner Interpretation der Rolle oder meiner Leistung befasst haben, sondern es ihnen nur um die Farbe meiner Haut ging, hat mich schockiert. Es wurde behauptet, ein Film mit einem schwarzen Jesus beleidige das Christentum. Meiner Meinung nach sind das Aussagen von ignoranten Menschen, die die Bibel falsch auslegen. Ich glaube daran, dass Jesus universell ist, so wie seine Botschaft. Er spricht zu den Menschen aller Religionen und unterscheidet nicht nach Farben. Es gibt darum keinen weissen oder schwarzen Jesus, es gibt nur ihn.

Gab es bestimmte Szenen, die Sie sehr intensiv erlebt haben?

Es gab viele Szenen, die körperlich und emotional ziemlich anstrengend waren. Die Szene, die mich am meisten berührt hat, war aber die Kreuzigungsszene, die wir in einer bergigen Landschaft drehten. Ich spürte die ganze Zeit über das Gewicht des Kreuzes auf mir. An diesem Tag war es sehr kalt und ich war fast nackt, weil Jesus der Überlieferung nach ebenfalls nackt war. Als ich dort stundenlang am Kreuz hing, fing ich irgendwann einfach an zu weinen. Nicht nur aus Erschöpfung, sondern weil mich der Gedanke an das erlittene Leid Jesu vor 2000 Jahren derart berührte. In diesem Moment konnte ich die Grösse seiner damaligen Entscheidung, sein Leben für die Menschen zu geben, stark nachempfinden.

Sie haben selber einen Migrationshintergrund und sind 2007 aus Kamerun nach Turin gekommen, um Ingenieurswissenschaften zu studieren...

Genau. Als ich damals in Italien ankam, dachte ich, das Leben hier wird viel einfacher. Ganz Europa ist ein Paradies, in dem jeder den anderen respektiert. Schluss - endlich sind alle Menschen auf der Erde Migranten. Aber ich hatte mich getäuscht. Einwanderer werden in Italien, wie in vielen anderen europäischen Ländern, an den Rand gedrängt und diskriminiert. Es gibt in Europa keine echte Integrationspolitik, die helfen würde, dass die Migranten am täglichen Leben und an der Gesellschaft teilhaben können. Der Migrationsfluss ist nicht aufzuhalten. Deshalb ist es dringend notwendig, konkrete Lösungen zu erarbeiten, damit diese Menschen eine Zukunft haben. Doch leider fehlt das Verständnis dafür. Stattdessen gibt es zu viele Vorbehalte und zu viel Angst. Davor, dass jemand Probleme macht, wenn er eine andere Hautfarbe hat oder aus einem Lager kommt. Die Flüchtlinge nehmen diesen Weg aber in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen auf sich. Wie viele Europäer, die seinerzeit aus ähnlichen Gründen, beispielsweise in die USA ausgewandert sind.

Im Film berichten Sie von Ihren eigenen Erfahrungen als Erntehelfer in Apulien. Wie kamen Sie zu diesem Job und was haben Sie dort erlebt?

Ich kam eher zufällig dazu, im Sommer 2011 auf den Tomatenfeldern im Süden zu arbeiten. Kurz zuvor verlor ich mein Stipendium, weil ich ein Examen nicht bestand. Daraufhin benötigte ich dringend Geld, um mein Studium weiter finanzieren zu können. Ich dachte, ich hätte eine gute Arbeit gefunden, doch was ich fand war ein mafiöses System der Ausbeutung. Meine Arbeit wurde mit 2 Euro pro Stunde bezahlt und ich arbeitete 16 Stunden pro Tag bei ungefähr 40 Grad Hitze. Die Verpflegung und der Transport zu den Feldern wurden mir von meinem Lohn abgezogen. Am Ende eines Tages blieben mir um die vier Euro übrig. Ich habe in einem vermüllten und schlammigen Ghetto gelebt, selbst in Kamerun habe ich nie solche Lebensbedingungen vorgefunden. Ich konnte überhaupt nicht nachvollziehen, dass Menschen in Italien in Plastikbaracken ohne Licht und fliessendes Wasser leben. Ich war empört von dem, was ich sah, schockiert über diese prekären und harten Arbeitsbedingungen. Also lehnte ich mich gegen dieses System auf, weil es im 21. Jahrhundert nicht akzeptabel ist, dass Menschen so behandelt werden.

War das die Initialzündung für Sie, sich in der Folge auch politisch für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen?

Ja. Es waren mehr als 1’200 Personen in diesem Lager und mit ihnen zusammen habe ich einen Streik organisiert. Mein Aktivismus begann an diesem Tag vor zehn Jahren. Von da an beschloss ich, jeden Tag zu kämpfen, um den ausgebeuteten Agrararbeitern zu helfen, nicht länger ausgenutzt zu werden. Für mich steht die Würde des Menschen im Zentrum.

War es Ihre Idee, die Flüchtlinge aus den Camps um Matera zu mobilisieren und ihren Kampf in den Film zu integrieren?

Ja. Ich rief Milo Rau an und sagte ihm, dass es wichtig sei, im Film auch über die Arbeitsbedingungen der Feldarbeiter vor Ort zu sprechen. Einerseits, weil Jesus nicht nur Matera besuchen, sondern auch in die Ghettos gehen würde. Auf der anderen Seite, weil Matera mit seinen Häusern und seiner Kultur wunderschön ist, aber viele Menschen nicht wissen, dass direkt nebenan solche Flüchtlingslager existieren. Uns war es wichtig, die negativen Aspekte des kulturellen und wirtschaftlichen Systems in Italien aufzuzeigen. Es ist unmenschlich, im Winter in einem Haus aus Pappe und Holz leben zu müssen, und genau das wollten wir anprangern. Die Konsument*innen in der Schweiz, in Deutschland und Frankreich sollten wissen, wer die Tomaten, die sie im Supermarkt kaufen, für sie gepflückt hat und unter welchen Umständen. Es geht darum, nicht die Augen vor diesen miserablen Zuständen zu verschliessen.

Wie beurteilen Sie die derzeitige Flüchtlingssituation in Bosnien oder überhaupt die Situation der Flüchtlinge während Corona? Gehen diese Menschen vergessen?

Das ist eine Schande für die Menschlichkeit. Niemand wandert ohne Grund aus. Diese Menschen versuchen der Ungerechtigkeit des Krieges zu entkommen, ihre Lebensgrundlagen wurden komplett zerstört. Dass die Menschen unter katastrophalen Bedingungen an den Grenzen festgesetzt werden, nicht nur in Bosnien, sondern auch in anderen europäischen Ländern, ist skandalös. Europa hat normalerweise einen Leuchtturmcharakter in Sachen Menschenrechte. Warum werden für Flüchtlinge andere Massstäbe angewendet? Schliesslich sind es Menschen wie wir. Wir sollten uns an den Gedanken der Brüderlichkeit erinnern.

Was ist nötig, um die christliche Botschaft dringlicher mit den heutigen Lebensumständen von notleidenden Menschen zu verknüpfen?

Es ist wichtig, dass Identifikationsfiguren wie Papst Franziskus die Solidaritätsbotschaft immer wieder übermitteln. Daneben gibt es viele Organisationen sowie Einzelpersonen, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Doch wir benötigen ebenso eine gewissenhafte Einwanderungspolitik. Besonders als Kontrapunkt zu den rechts - konservativen politischen Bewegungen, die mit Personen wie Matteo Salvini in Italien oder Marine Le Pen in Frankreich Fremdenhass schüren. Ferner sollte das Dubliner Abkommen abgeschafft werden. Das Verfahren regelt, dass derjenige Staat für die Behandlung eines Asylgesuchs zuständig ist, den ein Mittelmeer-Flüchtling als erstes betreten hat. Das bindet die Flüchtlinge an das jeweilige Land. Sie kommen nicht weiter. Schlimmer noch, oftmals werden sie nur hin- und hergeschoben. Denn wenn es doch einige von ihnen schaffen, beispielsweise in die Schweiz oder nach Deutschland zu gelangen, werden sie nach Italien oder Griechenland zurückgeschafft. Die Binnenstaaten sollten nicht von diesem System profitieren, sondern sich ihrer Verantwortung bewusst werden.

Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 16.3.21


KEB und tecum planen eine gemeinsame Veranstaltung mit Filmgespräch am 23. April um 19 Uhr. Weitere Infos folgen: www.keb.kath-tg.ch
 

Szene aus dem Film «Das neue Evangelium»
Quelle: Bild: © Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Photo by Armin Smailovic
Szene aus dem Film «Das neue Evangelium», in dem die biblische Geschichte mit dem heutigen Protest gegen die Ausbeutung der Tomaten-Erntehelfer verbunden wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Aktivist Yvan Sagnet spielt im Film Jesus als Aktivisten.
Quelle: © Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Photo by Thomas Eirich-Schneider
Der Aktivist Yvan Sagnet spielt im Film Jesus als Aktivisten.